22 Ausgabe 17/2015 [ buchbesprechung ] Barry Eichengreen Die großen Crashs 1929 und 2008: Warum sich Geschichte wiederholt Finanzbuch Verlag, München 2015, 560 Seiten, 34,99, ISBN 978-3-89879-890-7 r Dauerkrise in der Euro-Zone. Doch die Politik verspricht uns weiterhin, dass sie alles im Griff hat. Durchwursteln heißt nicht selten die Devise. Hierbei fällt auf, dass Staatspleiten insbesondere von Politikern und Ökonomen als singuläre und besondere Ereignisse betrachtet werden. Die erstaunt. Denn bereits in ihrem im Jahr 2009 veröffentlichten Buch „Dieses Mal ist es anders“ (This time is different) zeigten die Ökonomen Rogoff und Reinhart auf, dass sich allein in der Zeit seit 1800 rund 320 Staatsschuldenkrisen ereignet haben. Allein Frankreich kann zwischen 1558 und 1788 acht Staatsbankrotte verbuchen. Spanien kommt in dem Zeitfenster von 1557 bis 1647 auf sechs Staatspleiten. Damit widerlegen die Autoren die nicht selten anzutreffende These, dass Finanzkrisen vor allem ein Produkt der Gegenwart seien. Doch was haben Politik und Ökonomie aus der Geschichte gelernt? Leider nicht besonders viel. Der Kern des „Dieses Mal ist alles anders“- Syndroms ist einfach. Er besteht in der festen Überzeugung, dass Finanzkrisen nur anderen Menschen in anderen Ländern und zu anderen Zeiten passieren. Jetzt, hier und bei uns kann es keine Krise geben. Wir machen alles besser, wir sind klüger, wir haben die besten Methoden, und wir haben aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. So die Theorie. Die Praxis zeigt ein anderes Bild. Barry Eichengreen, Professor für Ökonomie und Politologie an der University of California in Berkeley, liefert mit seinem Buch „Die großen Crashs 1929 und 2008 – Warum sich Geschichte wiederholt“ eine fundierte Analyse der beiden größten ökonomischen Katastrophen in den letzten 100 Jahren – die Weltwirtschaftskrise in den 1930er-Jahren und die Finanzkrise seit 2008. Der renommierte Ökonom zeigt auf, dass beide Krisen einander wie ein Ei dem anderen gleichen. Beide entstanden infolge eines krassen Kreditbooms, dubioser Bankpraktiken sowie eines fragilen Finanzsystems. Und doch beriefen sich die Entscheidungsträger auf die falschen Lektionen, sodass die Krise nach mehr als sechs Jahren noch immer nicht ausgestanden ist. Das Buch von Eichengreen beschreibt die Ereignisse, die solche Krisen verursachen. Es zeigt außerdem auf, warum Regierungen und Märkte so reagieren, wie sie es tun. Weil die große Rezession von 2008 und 2009 so auffällig den Mustern der 1930er-Jahren ähnelte, lieferte diese Erinnerung an die Vergangenheit eine Art Objektiv, durch das man sie betrachten konnte. In den 1930er-Jahren unterlagen die Regierungen der Verführung des Protektionismus. Sie ließen sich von einem veralteten ökonomischen Dogma leiten, kürzten ihre öffentlichen Ausgaben zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt und versuchten, ihre Budgets ins Gleichgewicht zu bringen, als stimulierende Investitionen notwendig gewesen wären. Es machte keinen Unterschied, ob die betreffenden Politiker Englisch sprachen, wie Herbert Hoover, oder Deutsch, wie Heinrich Brüning. Ihre Maßnahmen verschlimmerten nicht nur den Niedergang, sondern sie scheiterten sogar an der Aufgabe, das Vertrauen in die öffentlichen Finanzen wiederherzustellen. Die Zentralbanker hielten an der Idee fest, dass sie nur so viele Kredite bereitstellen müssten, wie es für die legitimen Bedürfnisse der Unternehmen erforderlich war. Sie gewährten mehr Kredite, wenn die Wirtschaft expandierte, und weniger, wenn es einen Rückgang gab, womit sie Booms und Krisen noch verstärkten. Sie vernachlässigten ihre Verantwortung für finanzielle Stabilität und schritten nicht als Kreditgeber in Notfällen ein. Das Ergebnis war ein sprunghaftes Ansteigen von Bankenpleiten und ein verkümmerndes Kreditgeschäft. Eichengreen zeigt in seinem Buch im Wesentlichen auf, warum es so wichtig wie auch schwierig ist, aus der Geschichte zu lernen. Mit konkreten Lösungsvorschlägen hält er sich eher zurück. „Wir können Risiken erkennen, aber wir können Krisen nicht exakt vorhersagen“, bestätigt Eichengreen. Wäre das Buch bereits vor dem Jahr 2008 erschienen, so hätten viele Leser eine Antwort auf die Frage von Königin Elisabeth II. anlässlich eines Besuchs der London School of Economics gehabt. „Warum hat das niemand kommen sehen?“, fragte sie die versammelten Experten. Sechs Monate später schickte eine Gruppe prominenter Wirtschaftswissenschaftler der Königin einen Brief und entschuldigte sich für „den Mangel an kollektiver Fantasie“. Dabei hätte ein Blick in die Geschichte auch eine Antwort geliefert. (Frank Romeike) RISIKO MANAGER Rating: Praxisbezug: rrrrr Inhalt: rrrrr Verständlichkeit: rrrrq Gesamtwertung: rrrrr
23 Interview mit Paul Embrechts Die Copulae fanden mich … Paul Embrechts ist Professor für Mathematik an der ETH Zürich, spezialisiert auf Versicherungsmathematik und Quantitatives Risk Management. Während seiner akademischen Karriere forschte und lehrte er unter anderem an den Universitäten Leuven, Limburg und London (Imperial College). Paul Embrechts nimmt Gastprofessuren an verschiedenen Universitäten wahr, darunter der Scuola Normale in Pisa (Cattedra Galileiana), der London School of Economics (Centennial Professor of Finance), der Universität Wien, Paris (Panthéon-Sorbonne), der National University of Singapur und der Kyoto University. Er war im Jahr 2014 Gast am Oxford-Man Institute der Universität Oxford und hat Ehrendoktorwürden der University of Waterloo, Heriot-Watt University Edinburgh, und der Université Catholique de Louvain. Er ist gewähltes Mitglied des Instituts für mathematische Statistik und der American Statistical Association, Ehrenmitglied des Instituts und der Fakultät für Aktuare, Versicherungsmathematiker-SAA, Mitglied Honoris Causa der belgischen Institute of Actuaries und ist in der Redaktion zahlreicher wissenschaftlicher Journals. Während sich viele Forscher nur innerhalb ihrer kleinen Gemeinschaft bewegen, stehen Sie einen beträchtlichen Teil Ihrer Zeit im Dialog mit der Finanzindustrie und der Finanzmarktregulierung, um diese zum Überdenken und Verbessern ihrer Risiko managementpraktiken anzuregen. Wie ist es dazu gekommen? Wie sieht das tatsächliche Zusammenspiel zwischen Finanzmarktregulierung und Mathematik aus? Paul Embrechts: Das lässt sich leicht beantworten. Die herausragende akademische Umgebung der ETH in Verbindung mit der intellektuellen und auch physischen Nähe der Finanz- und Versicherungsindustrie in Zürich, einschließlich Regulatoren, bietet die ideale Grundlage für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Ehemalige Studenten oder Kollegen, die jetzt in der Industrie arbeiten, kontaktieren mich regelmäßig, um aktuelle Angelegenheiten zu besprechen, die von persönlichen bis zu beruflichen Dingen reichen. Außerdem verfüge ich über mehr als zwanzig Jahre Erfahrung als unabhängiger Direktor auf Vorstandsebene im Bankenund Versicherungswesen. Die Kombination dieser verschiedenen Faktoren dürfte weltweit nahezu einmalig sein, insbesondere für einen Mathematiker. In regulatorischer Hinsicht begann alles am 7. Oktober 1994, als wir mit dem Start unseres Forschungszentrums Risk- Lab eine Schnittstelle zwischen Industrie, Akademia und Regulatoren geschaffen haben. Gemeinsam beschäftigen wir uns seither mit offenen Problemen, bei denen Faktoren aus allen drei Bereichen berücksichtigt werden müssen. Im vergangenen Jahr haben wir das 20-jährige Bestehen von RiskLab gefeiert. Als Mitgründer (zusammen mit meinem Kollegen Hans- Jakob Lüthi) und aktueller Direktor bin ich stolz auf das, was wir erreicht haben. In vielerlei Hinsicht ist RiskLab in Zürich ein Modell für die Zusammenarbeit auf diesem Gebiet. Ich persönlich bewerte das aktuelle Zusammenspiel zwischen Mathematik und Finanzmarktregulierung positiv. Beispiele hierfür sind die Erörterungen über den Einsatz von regulatorischen Risikomaßen (etwa Value-at-Risk gegenüber Expected Shortfall) für das Anlagebuch oder auch das erneuerte Interesse an den Möglichkeiten und Beschränkungen bei der quantitativen Modellierung des operationellen Risikos. In Bezug auf diesen letzten Aspekt holen Industrie und Regulatoren verstärkt Bildquelle: Paul Embrechts unsere Meinung ein. Dies vor allem aufgrund der zunehmenden Verluste durch Rechtskosten und Compliance-Risiken als Nachwirkung der Finanzkrise. Industrieexperten, Regulatoren und Forscher scheinen manchmal drei verschiedene Sprachen zu sprechen. Was ist erforderlich, um von allen gehört (und verstanden) zu werden? Paul Embrechts: Gegenseitiger Respekt! Als Mathematiker müssen wir zunächst feststellen, wo die echten praktischen Probleme liegen. Wir dürfen nicht mit dem großen Mathematikhammer kommen und nach dem Nagel fragen, den wir einschlagen sollen. Meinen Studenten gebe ich folgenden Rat: „Seid stets bescheiden, wenn ihr faktischen Problemen gegenübersteht.“ Dazu zitiere ich Shakespeares Hamlet (1.5.167-8, Hamlet zu Horatio): „Es gibt mehr Ding im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt.“ Die Praktiker andererseits müssen ebenfalls erkennen, wo die Stärken eines Mathematikers liegen. Diese bestehen in erster Linie in der Fähigkeit, Probleme, die zugrunde liegenden Bedingungen und mögliche Lösungen präzise zu formulieren. Insbesondere als Mathematiker muss man einige Zeit investieren, um sich Respekt zu verdienen und das nötige Verständnis zu schaffen. Dieses hohe Ziel ist nur mit hervorragenden pädagogischen Kommunikationsfähigkeiten erreichbar. Inwieweit diese Fähigkeiten angeboren sind oder durch Erfahrung gewonnen werden können, wird intensiv diskutiert. Um an die zuvor erwähnte Metapher vom Brücken-
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