24 firm Frankfurter Institut für Risikomanagement und Regulierung INTERVIEW „Modelle leisten immer noch gute Dinge“ Interview mit David X. Li Nach der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 und der anschließenden Finanzkrise suchte die Öffentlichkeit nach Ursachen, Erklärungen und nicht zuletzt Schuldigen. Durch die vielbeachteten Artikel „Recipe for disaster: The formula that killed Wall Street“ (Felix Salmon, Wired Magazine, 17 (3), 2009) und „The formula that felled Wall St“ (Sam Jones, Financial Times, April 24, 2009) erhielt David X. Li unfreiwillig weltweite Aufmerksamkeit und personifizierte für viele den prototypischen Quant, der mit der Erfindung des Gauß’schen Copula-Modells den Handel mit Portfolio-Kreditderivaten erst ermöglichte. Sein Aufsatz „On default correlation: A copula function approach“ (Journal of Fixed Income 9 (4): 43–54, 2000) wurde bis heute 1.709 Mal zitiert (Google Scholar, 3. Oktober 2016) und in der finanzmathematischen Community oft hart kritisiert. Doch ist die Erklärung so einfach? Hätte ein anderes Modell für gemeinsame Firmenausfälle die Krise tatsächlich verhindert? Wir sprechen mit David X. Li selbst, der uns ausführlich und exklusiv über die technischen und historischen Hintergründe seines Modells berichtet und seine persönliche Sicht auf obige Kritik schildert. Dabei diskutieren wir über Herausforderungen in der Konstruktion komplexer finanzmathematischer Modelle und deren Anwendung. Wir erläutern auch, welche Einschränkungen das Gauß‘schen-Copula-Modell tatsächlich besitzt, wer schon früh über diese berichtete und was dies für Anwendungen bedeutet. Die Fragen stellte Prof. Dr. Matthias Scherer, selbst Autor wissenschaftlicher Arbeiten im Bereich Copulas und Kreditrisiko. FIRM-Redaktion: Welche Anwendung hatten Sie im Sinn, als Sie die mittlerweile als Gauß‘sches-Copula-Modell für Kreditausfälle bekannte Formel entwickelten? David Li: Eigentlich wollten wir Mitte der Neunziger Jahre praktische Probleme in unserem Vertriebs- und Handelsgeschäft in der Financial Products Group der CIBC angehen. Beispielsweise sorgten wir uns um den gemeinsamen Ausfall von Referenzkredit und Gegenpartei in klassischen CDS-Verträgen (Credit Default Swaps). Dies betraf beispielsweise vor der Asienkrise einen CDS mit der Korean Development Bank als Referenzwert und einer japanischen Bank als Gegenpartei. 1996 bis 1999 boten wir im Kreditderivatgeschäft mit Schwellenmärkten bereits kleine Basket-Kreditderivate wie FTD- (First To Default) und STD- (Second To Default)Verträge. Cash-CDOs und CBOs waren bereits auf dem Markt, ebenso verschiedene Credit Linked Notes. FIRM-Redaktion: Wie entdeckten Sie Copulas als methodisches Instrument? Besteht eine Verbindung zu Ihrem wissenschaftlichen Hintergrund in der Versicherungsmathematik, und sind Sie mit Forschern aus dem Wissenschaftsbetrieb im Gespräch? David Li: Von Copulas hörte ich erstmals von meinem Kollegen Jacques Carriere, als wir beide an der Universität Manitoba Versicherungsmathematik unterrichteten. Er war an einem Forschungsprojekt mit Professor Jed (Edward) Frees und seinem damaligen Doktoranten Emiliano Valdez an der Universität Wisconsin beteiligt. Emiliano ist nun Professor für Versicherungsmathematik an der Universität Connecticut. Bei dem Projekt sollte die Bewertung der gemeinsamen Leibrente unter Berücksichtigung des Phänomens des „gebrochenen Herzens“ untersucht werden. Herkömmlicherweise haben Versicherungsmathematiker die Lebenserwartung eines Paares voneinander unabhängig bewertet: jeweils nach den entsprechenden Sterbetafeln für Männer und Frauen. Aber als Paar lebt man unter einem Dach, geht zusammen auf Reisen und teilt gewisse Risiken. Je älter die Leute werden, desto stärker sind sie aufeinander angewiesen. Bei Paaren im fortgeschrittenen Alter hat der Tod eines Partners auf den überlebenden enorme Auswirkungen, wobei diese Auswirkungen, wie empirische Studien belegen, nicht einmal symmetrisch sind: Wenn die Frau zuerst stirbt, hat dies viel stärkere Folgen für den Mann als umgekehrt. Bei empirischen Studien mit Daten von Great West Life fanden die Forscher eine positive Korrelation der Überlebenszeiten bei Paaren und untersuchten die Auswirkungen auf die Bewertung gemeinsamer Leibrenten mithilfe von Copula-Funktionen. Dank Jacques wusste ich von diesen Forschungsarbeiten, stieg aber nicht zu sehr in die Details ein, da ich noch mit meiner eigenen Doktorarbeit zu einem ganz anderen Thema beschäftigt war. Bevor ich diese Arbeit abschloss, übernahm ich an der Business School der Universität Manitoba einen unbefristeten Lehrauftrag. Anfangs investierte ich jede Menge Arbeit in die Überlegung, wie man das von Duffie und Singleton eingeführte stochastische Hazard- Rate-Modell auf Preise für CDOs anwenden könnte. Allerdings gelang es mir nicht, das Modell genau auf den Markt abzustimmen. Zudem waren das für die Trader tendenziell zu viele Parameter, und selbst in einer NT-3.0-Umgebung, die 1996 oder 1997 gerade auf den Markt gekommen war, erwies sich die geforderte Rechenleistung einfach als
25 Ausgabe 10/2016 enorm. Ich machte mich auf die Suche nach einer „einfachen“ Lösung und bat deshalb Emiliano, mir sein Arbeitspapier mit Jed und Jacques zukommen zu lassen. Per Fax sendete er mir also „Understanding relationship using copula function“, während ich für die CIBC Financial Products Group in New York arbeitete. Damals stand Roger Nelson kurz vor der Veröffentlichung seines Buchs zu Copulas. Ich bat ihn um einen Vorabzug mit dem festen Versprechen, mir sofort das Buch zu kaufen, wenn es auf dem Markt wäre. Er sendete mir den Vorabzug als PDF-Datei. Natürlich kaufte ich dann auch wie versprochen das eigentliche Buch. Vielleicht hat ja die Tatsache, dass ich in meinem Artikel auf sein Werk verwiesen habe, dazu beigetragen, dass sich sein Buch besser verkaufte. Auf jeden Fall konnte ich beim Lesen seines Buchs und der darin angegebenen Referenzen eine Menge über Copula-Funktionen lernen. Professor Paul Embrechts hielt 1999 an der Columbia University einen Vortrag über Copula-Funktionen mit Anwendungen im Risikomanagement. Ich sprach ihn darauf an, dass ich seit einigen Jahren Copula-Formeln einsetzte, worauf er mich erstaunt nach dem Zweck fragte. Zur Ermittlung der Preise von Kreditderivaten, entgegnete ich. Übrigens habe ich auch den Forschungsbericht gelesen, den Shaun Wang für die Casualty Society of Actuaries (CAS) über die Anwendung bei der Kapitalallokation verfasst hat. Und dann habe ich mich in der New York Public Library intensiv mit Konferenzprotokollen zu Copula-Funktionen beschäftigt, insbesondere solchen Artikeln, die sich mit dem Aufbau von Copula-Funktionen anhand von Extremwertverteilungen beschäftigten. FIRM-Redaktion: Ihrer berühmten Publikation [Li, David X.: On default correlation: A copula function approach. Journal of Fixed Income 9 (4): S. 43-54 (2000)] erwähnen Sie verschiedene Copula-Familien. Warum kam dann letzten Endes in der Finanzindustrie das Gauß‘sche Copula-Modell zum Einsatz? David Li: Dies lässt sich auf die Modellierung der Vermögensrendite eines Finanzinstituts zurückführen. Gemäß der These von Merton lässt sich das Vermögen als Lognormalprozess darstellen und somit die Rendite als Normalprozess. Wenn man das Problem allerdings aus technischer Perspektive betrachtet, erkennt man, dass bei der Erstellung einer gemeinsamen Verteilung anhand gegebener Grenzwerte viele andere Copula-Funktionen zum Einsatz kommen können. An unserem Trading Desk haben wir zahlreiche unterschiedliche Copula-Funktionen untersucht, wie die Frank-Copula und Misch-Copulas, die auf Extremwertverteilungen basieren. Sobald man die Korrelation mithilfe der gleichen Rangkorrelation kontrolliert, lassen sich die Auswirkungen unterschiedlicher Copula-Funktionen untersuchen. Meiner Meinung nach war noch nicht der Punkt erreicht, an dem der feine Unterschied erfasst wird, den unterschiedliche Copula-Funktionen in der Frühphase des Einsatzes von Copula-Funktionen in der Modellierung von Kreditportfolios machen können. Außerdem müssen die gewählten Copulas und die darin enthaltenen Parameter ökonomisch interpretiert werden. Meinem Wissen nach plädierten einige quantitative Analysten bei Lehman ein paar Jahre lang für die Student-t-Copula, aber letztlich fanden die Anwender bei der Bewertung von CDO-Tranchen kaum Unterschiede zwischen der Gauß‘schen Copula und der Student-t-Copula. In dem Paper nannte ich ein paar Copula-Funktionen. Beim Beispiel eines CDS mit risikobehafteter Gegenpartei kam eine Misch-Copula zum Einsatz, bei dem der FTD-Preisgebung hingegen die Gauß‘sche Copula. Ich plädierte nicht gezielt für die Gauß‘sche Copula und schon gar nicht für die Gauß‘sche Einfaktor-Copula. Stattdessen präsentierte ich das Ganze als generelles Rahmenmodell und zeigte den Zusammenhang zwischen der Gauß‘schen Copula und Mertons Einperioden-Modell auf. Die Marktteilnehmer benötigen ein einfaches Modell, um miteinander kommunizieren zu können. Manche verwenden bei der Bewertung von Optionen die implizite Volatilität und gehen dabei davon aus, dass wir alle die Black-Scholes-Formel nutzen. Wir greifen beim Handel mit CDX oder Itraxx-Tranchen auf die Gauß‘sche Einfaktor- (bzw. Einparameter)-Copula zurück. Meiner Meinung nach ist die Gauß‘sche Copula wegen ihrer ökonomischen Interpretation und ihrer Einfachheit, insbesondere mit einem einzigen Korrelationsparameter, so beliebt geworden. FIRM-Redaktion: War (oder ist) sich die Branche bewusst, dass verschiedene Portfolio-Ausfallmodelle die gleiche Abhängigkeitsstruktur wie die Gauß‘sche Copula aufweisen, wobei der Begriff Copula in der Regel nicht erwähnt wird? David Li: Es gab schon einige Leute, die dies eingesetzt haben, ohne aber das Konzept der Copula-Funktionen zu kennen. Joe Pimbley, der 1995 für Moody’s tätig war, schrieb einen zwölfseitigen Artikel darüber, wie man ein dynamisches Modell für gemeinsame Ausfälle erstellt. Darin beschrieb er alle wichtigen Elemente eines dynamischen Modells für Kreditportfolios – stochastisches Zinsmodell für die Renditekurve, dynamisches Modell für Spreads – und bettete den Ausfall mit entsprechenden Tests bei jedem Zeitschritt in den Prozess ein. Allerdings gab er nicht an, eine Modellbildung der Ausfallzeit vorzunehmen und die Vermögensrendite zur Korrelation einzusetzen. Viele der Artikel zur Modellbildung bei Krediten wurden im Zeitraum 1994 bis 2000 veröffentlicht. Duffie und Singleton publizierten ihren Artikel „Modeling term structures of defautable bonds“ 1994 als Arbeitspapier, die Endfassung dann 1999. Das Jarrow-Turnbull-Papier wurde 1995 veröffentlicht, etwa zur gleichen Zeit 1995 auch das technische KMV-Dokument von Vasicek. CreditMetrics Technical Document von JP Morgan, CreditRisk+: Technical Documentation von CSFB und CreditPortfolio View von McKinsey wurden allesamt in den Jahren 1997 und 1998 veröffentlicht. Da ich ja im Kreditbereich praktisch arbeite, verfolgte ich diese Entwicklungen in der Forschung damals genau und führte sie mir ausführlich zu Gemüte. Mit den meisten Autoren stand ich in direktem Kontakt. Professor Turnbull war zunächst für CIBC als Berater und dann Vollzeit tätig, als auch ich dort arbeitete. Damals wurden die meisten Ideen, wie sich das Konzept der Copula-Funktion bei Krediten anwenden lässt, entwickelt, untersucht und umgesetzt, um praktische Probleme bei der Preisfindung und dem Handel mit Kreditderivaten zu lösen und Kreditportfolios zu modellieren. Professor Turnbull war ein gefragter Gesprächspartner und dürfte einer der ersten Wissenschaftler gewesen sein, dem ich die Idee, Copulas zur Modellbildung bei Kreditportfolios einzusetzen, vorlegte. 1995 lernte ich Professor Duffie kennen. Immer wieder wandte ich mich an ihn, um seinen Rat einzuholen und über die jüngsten Entwicklungen in der Welt der Wissenschaft auf dem Laufenden zu sein. Anlässlich der Tagung zum 50-jährigen Bestehen der Society of Actuaries (SOA) in San Francisco im Jahr 2000 organisierte ich eine Veranstaltung zum Thema Modellierung von Kreditportfolios. Dazu lud ich Chris Finger, einen der drei Autoren von CreditMetrics, Tom Wilde als wichtigsten Akteur hinter CreditRisk+ und Tom Wilson, der
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