36 firm Frankfurter Institut für Risikomanagement und Regulierung dieses Ansatzes in der betrieblichen Praxis zu erklären: Ausgehend von einem strikt subjektiven Wertverständnis in der Unternehmensbewertung, das typischerweise im „klassischen“, auf das Entscheidungsfeld des Bewerters angelegten Ertragswert zum Ausdruck kam, erfreut sich seit nunmehr gut 20 Jahren eine stärkere Kapitalmarktorientierung der Bewertung großer Beliebtheit, die durch den Rückgriff auf „faire“ Daten zugleich mit einer Objektivierung und Allgemeingültigkeit in Verbindung stehen soll. Wird eine solche Ausrichtung der Bewertung in einem nach wie vor recht kapitalmarktfernen Land wie Deutschland angestrebt und umgesetzt, verwundert es nicht, dass es ohne (grobe) Analogieschlüsse im Rahmen einer „Peer-Group-Analyse“ nicht geht. Faktisch bilden die ca. 1.000 börsennotierten Gesellschaften in Deutschland den Bewertungsrahmen für alle anderen kapitalmarktfernen Unternehmen, die auf Basis einer wie auch immer definierten Vergleichsgruppe bewertet werden sollen. Es dürfte damit unmittelbar klar sein, dass ein solches Vorgehen vielleicht einer groben Einordnung dienen kann, aber auch hier den/die Bewerter/-in nicht von der eigentliche Aufgabe entbindet. Schlussendlich dürften derartige „Vergleichsgrößen“ – warum auch immer – aber oftmals eine Rolle im Fall gerichtlicher Auseinandersetzungen spielen. FIRM-Redaktion: Ist es plausibel, dass gemäß CAPM für die Berechnung der erwarteten Rendite und damit des Beta-Faktors nur systematische Risiken erfasst werden? Diese werden zudem aus historischen Kursentwicklungen an der Börse abgeleitet. Dies unterstellt, dass der Kapitalmarkt über die Risikosituation eines Unternehmens mindestens so gut informiert ist wie das Unternehmen selbst! Sascha H. Mölls: Sie bedienen sich in Ihrer Frage einer Formulierung, die sich so zwar häufig findet, nach meinem Eindruck aber ungenau und dadurch irreführend ist. Die beiden Risikokomponenten des „systematischen“ und des „unsystematischen“ Risikos stehen nicht losgelöst nebeneinander, sondern sind vielmehr miteinander verbunden. Dies ergibt sich durch den Umstand, dass in die Kovarianz, die für den Beta-Faktor maßgeblich ist, das unternehmensindividuelle Risiko eingeht. Ein (Groß-)Teil des systematischen Risikos ist also unsystematisches Risiko. Es wäre anders auch gar nicht zu erklären, warum sich das CAPM beziehungsweise der Beta-Faktor prinzipiell für die Bestimmung risikoangepasster Eigenkapitalkosten eines Unternehmens eignet. Infolge der Diversifikationsannahme, die – nicht unplausibel – einen breit aufgestellten Investor unterstellt, wird das unsystematische Risiko bewertungsirrelevant (da ausschaltbar), und es verbleibt für die Festlegung der Risikoprämie nur die systematische Risikokomponente. Für praktische Bewertungssituationen ist dann sicherlich wieder der übliche Vergangenheitsbezug ein Problem, stellt schlussendlich aber lediglich eine Facette des generellen Prognoseproblems dar. Sie haben auch recht, wenn Sie die weitreichenden und zugleich vereinfachenden Annahmen über die Informationsversorgung und -verteilung kritisieren: Die Prämisse vollkommener Märkte ist eine harte Annahme, die alle gewünschten Transformationen und damit „einfache“ Lösungen ermöglicht! FIRM-Redaktion: Welche Bewertungsansätze schlagen Sie für KMUs vor, für die keine Kapitalmarktinformationen vorliegen? Sascha H. Mölls: Meine vermutlich eher kritischen Anmerkungen zu den Einsatzmöglichkeiten und -grenzen der „Peer-Group-Analyse“ machen sicherlich bereits deutlich, dass ich der Übernahme von (wenigen) Kapitalmarktdaten als Referenzrahmen für die Bewertung des breiten Spektrums kapitalmarktferner Unternehmen sehr kritisch gegenüber stehe. Diese Einschätzung setzt sich unmittelbar mit Blick auf die Bewertung von KMUs fort. Derartige Unternehmen dürften in der Regel ganz anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen (beispielsweise im Hinblick auf die Rolle des/der Eigentümers/-in) und dadurch sehr spezifischen Risikosituationen ausgesetzt sein. Folgerichtig wird in der jüngeren Literatur auch eine Abkehr vom „Mantra“ der Analogieschlüsse auf Basis (scheinbar) objektivierter Kapitalmarktdaten vorgeschlagen und im Sinne eines multidimensionalen Ansatzes stattdessen die Verwendung verschiedener Methoden der Risikoanalyse vorgeschlagen. Ich beurteile ein solches Vorgehen im Vergleich zur heute üblichen Bewertungspraxis auch als erfolgversprechender. Es steht übrigens prinzipiell im Einklang mit der bereits zuvor erwähnten (real-)optionsbasierten Bewertung, die der Analyse unterschiedlicher Facetten von Unsicherheit ebenfalls einen enormen Stellenwert für das Verständnis der Entscheidungssituation und die Bewertung beimisst. FIRM-Redaktion: Warum werden die unternehmensinternen Risikoinformationen nicht stärker im Rahmen der Unternehmensbewertung berücksichtigt, beispielsweise mithilfe einer risikodeckungsorientierten Kapitalkostenbestimmung bzw. simulationsbasierter Ansätze (siehe Beitrag von Gleißner/Wolfrum im „Handbuch Kapitalmarktorientierte Unternehmensbewertung)? Bieten die Werkzeuge des Risikomanagements hierfür nicht etablierte Instrumente, die jedoch in der Welt der Unternehmensbewertung noch nicht angekommen sind? Sascha H. Mölls: Dieser Frage kann ich – wie die vorhergehenden Antworten sicherlich vermuten lassen – ohne Einschränkung zustimmen. Dem Verständnis der Risikosituation beziehungsweise des Zusammenspiels der einzelnen Risikoquellen kommt im Rahmen einer jeden Bewertung eine zentrale Rolle zu. Eine reine Fokussierung auf Kapitalmarktdaten, die Risiko eben nur auf einer hoch aggregierten Ebene reflektieren, dürfte für eine problemadäquate Bewertung im Regelfall nicht ausreichend sein. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund der zu Beginn des Interviews angesprochenen „Mega-Trends“ (Digitalisierung, „Artificial Intelligence“ etc.) sowie sich verändernder globaler Wirtschaftsstrukturen. Methoden und Werkzeuge des Risikomanagements sind daher sicherlich ein guter Anknüpfungspunkt für eine Fortentwicklung bzw. Verbesserung der gegenwärtig praktizierten Unternehmensbewertung.
37 Ausgabe 09/2019 FIRM-Redaktion: Wie bewerten Sie die Methoden zur Unternehmensbewertung im Kontext der Rechnungslegung? Sascha H. Mölls: Im Zuge der Internationalisierung der Rechnungslegung haben in den vergangenen Jahren Bewertungsfragen für die Unternehmenspublizität stark an Bedeutung gewonnen. Ursächlich hierfür ist konkret die Hinwendung zum „fair value“, der – sofern keine Marktpreise vorliegen – entweder über Analogieschlüsse oder kapitalmarktorientierte Bewertungen auf Basis von Barwertkalkülen zu ermitteln ist. Damit steht die Rechnungslegung heute – stärker als früher – in unmittelbarer Verbindung zu zentralen Methoden der Unternehmensbewertung. Eine solche Verbindung scheint mir allerdings nicht unkritisch zu sein: Einerseits ist das Bemühen um zukunftsbezogene Wertansätze im Hinblick auf den Informationsnutzen und damit die Entscheidungsrelevanz der Rechnungslegung sicherlich zu begrüßen. Beizulegende Zeitwerte dürften prinzipiell informativer sein als historische Anschaffungs- oder Herstellungskosten. Andererseits teilt die Unternehmenspublizität damit aber auch das Schicksal einer jeden zukunftsbezogenen Bewertung: Die ausgewiesenen Wertansätze sind subjektiv, also maßgeblich vom Bewertenden bestimmbar. Bewertungsgrundlagen verschwimmen und sind für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbar. Dadurch dürfte im Zweifelsfall für die Adressaten der Rechnungslegung im Hinblick auf den Informationsnutzen der veröffentlichten Zahlen nicht viel gewonnen sein. Nicht zuletzt dürfte die Hinwendung zu kapitalmarktorientierten Bewertungsansätzen im Rahmen der Rechnungslegung auch ein zentraler Faktor in der Entstehung der letzten globalen Finanz- und Kapitalmarktkrise gewesen sein: Vermeintlich „faire“ Werte können schnell „unfair“ werden, wenn sich zukunftsbezogene Schätzungen als falsch erweisen und der Gewinnausweis infolge der Zeitbewertung im Zeitablauf ohnehin zyklischer wird. Spätestens hier zeigt sich, dass die Diskrepanz zwischen „Anspruch“ und „Wirklichkeit“ einer kapitalmarktorientierten Bewertung gravierende ökonomische Konsequenzen nach sich ziehen kann. FIRM-Redaktion: Lassen Sie uns zum Abschluss noch einen Blick in die Kristallkugel werfen. Welche Entwicklungen sehen Sie im Bereich der kapitalmarktorientierten Unternehmensbewertung in den nächsten Jahren, und wie gestalten Sie diese Entwicklungen mit? Sascha H. Mölls: Die Entwicklungen sind nach meinem Dafürhalten im Rahmen der bisherigen Fragen schon sehr gut zum Ausdruck gekommen: Zum einen wird es um die weitere empirische Fundierung bekannter oder leicht fortentwickelter Bewertungsansätze gehen, mit der die kapitalmarktorientierte Bewertung klassischer Prägung „abgesichert“ werden soll. Zugleich werden sowohl bei der Bewertung kapitalmarktorientierter als auch kapitalmarktferner Unternehmen differenzierte Risikoanalysen, die sich sowohl auf verschiedene Risikofaktoren als auch deren Zusammenspiel beziehen, an Bedeutung gewinnen. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Bewertung selbst als auch in Bezug auf die Ableitung differenzierter Entscheidungsregeln. Die für diesen Zweck erforderlichen Methoden und Verfahrensweisen stehen heute prinzipiell bereits zur Verfügung, müssten aber sowohl seitens der Wissenschaft als auch und gerade durch die Bewertungspraxis noch wesentlich intensiver aufgegriffen werden. Persönlich möchte ich in der Zukunft auch weiterhin aktuelle Fragen aus den beiden skizzierten Trends aufgreifen und im Rahmen sowohl empirischer als auch konzeptioneller Analysen bearbeiten. Prof. Dr. Sascha H. Mölls ist seit 2011 Inhaber der Professur für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Rechnungslegung am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften an der Philipps-Universität Marburg. Nach einem Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Philipps-Universität Marburg erfolgten die Promotion (2003) sowie die Habilitation (2008) ebenfalls in Marburg. Danach hatte Herr Mölls in der Zeit von 2008 bis 2010 den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung, an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel inne. Zu seinen Arbeits- und Forschungsgebieten gehören – neben der finanzwirtschaftlichen Unternehmensbewertung in ihren unterschiedlichen Facetten – insbesondere die empirische (vergleichende) Corporate Governance- und Rechnungslegungsforschung sowie das Entscheidungsverhalten von Wirtschaftsprüfern.
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