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RISIKO MANAGER 04.2016

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38 firm Frankfurter

38 firm Frankfurter Institut für Risikomanagement und Regulierung FIRM-Redaktion: Stichwort Standardformel: Die Parameter sowie die Struktur der Standardformel wurden über die Jahre immer wieder – je nach Interessenlage – adjustiert. Nicht wenige Berechnungslogiken und Parameter basieren auf fehlerhaften Annahmen und falschen Rechenlogiken (siehe etwa die Studie von Stefan Mittnik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München: „Solvency II Calibrations: Where Curiosity Meets Spuriosity”). Im Ergebnis ist trotzdem die Standardformel ein in hohem Maß kompliziertes Gebilde, das nur wenige Experten verstehen. Matthias Müller-Reichart: Über die verschiedenen Stufen der QIS-Studien wurde der Standardansatz zum einen weiter verfeinert und zum anderen politisch instrumentalisiert. Mit allen Adjustierungen der Standardformel hat die Komplexität zwar zugenommen, nur irren wir uns jetzt lediglich auf einem höheren mathematischen Niveau. Herr Kollege Mittnik hat die mathematischen Schwächen des Standardansatzes bestens herausgearbeitet, zahlreiche Annahmefehler (die auf dem britischen Immobilienmarkt beruhende Volatilitätsannahme des Immobilienrisikos) komplettieren zudem die Schwächen des Datensets. Andererseits hat kein noch so heller Geist die Zauberformel für eine korrekte und risikoadäquate Erfassung aller ein Versicherungsunternehmen betreffenden Risiken gefunden – somit war es bei aller berechtigten Kritik richtig, mit einer hoch risikoaversen und in zahlreichen Studien evaluierten Berechnungsformel zu starten und diese auf einen permanenten Prüfstand zu stellen. FIRM-Redaktion: Erhalten wir – bei einem einjährigen Bewertungshorizont und einem „Sonnschein-Risikomaß“ Value-at-Risk – seriöse Aussagen zur finanziellen Stabilität eines Versicherers? Matthias Müller-Reichart: Ein klares Nein – aber wie definieren Sie Aussageseriosität? Natürlich ist das nicht kohärente Risikomaß Valueat-Risk in einer einperiodigen Sichtweise die Einladung zu fehlerhaften Aussagen, doch könnten die Unternehmen die Unsicherheit und Komplexität mathematisch korrekterer Modelle überhaupt umsetzen? Für einen risikokohärenten Tail-Value-at-Risk fehlt den Unternehmen eine notwendige, repräsentative Ereigniszahl, und bei mehrperiodischen Betrachtungen müssen wir Barwertvergleiche mit erneut risikofördernden, unbekannten Diskontierungsfaktoren bemühen. Eine schöne, mathematisch stringente Modellierungswelt scheitert schlicht und ergreifend an der Realität. FIRM-Redaktion: Wird das Proportionalitätsprinzip ausreichend berücksichtigt? Oder folgen Solvency II und Standardansätze nicht eben doch der Logik „one size fits all“? Matthias Müller-Reichart: Unsere nationale Aufsicht wird dem Proportionalitätsprinzip Rechnung tragen. Dabei müssen wir uns aber von der Idee einer linearen Proportionalität verabschieden (sonst müsste der ORSA-Bericht eines Versicherungsunternehmens mit Bruttobeitragseinnahmen von 15 Mio. Euro eine halbe Seite umfassen) und uns einer degressiven Sichtweise zuwenden. Zumal Solvency II das Primat der Prinzipienorientierung verfolgt, obliegt es dem einzelnen Versicherungsunternehmen „seine“ Proportionalität durch eine klare Abstimmung und Kommunikation mit der BaFin einzufordern. Die Interpretationshoheit der vorgelegten Solvency-II-Nachweisungen (Säule 2 und 3) obliegt selbstverständlich der nationalen Aufsicht, das Interpretationsrisiko und somit auch die Interpretationschance verbleibt bei den Versicherungsunternehmen. Im Dialog mit den nationalen Aufsichten wird sich das Proportionalitätsprinzip entwickeln und der Regulatorik eine den Marktverhältnissen entsprechende Flexibilität verleihen. FIRM-Redaktion: Sollte eine Kapitalanlage-Strategie (und auch Produkt-Strategie) von regulatorischen Konstrukten gesteuert werden? Ich denke in diesem Kontext vor allem an das politisch definierte Null-Risiko für Staatsanleihen. Matthias Müller-Reichart: Die Prinzipienorientierung von Solvency II soll, ja muss auch für die Kapitalanlage gelten. Die Regulatorik von Versicherungsunternehmen wird mit dem Vertrauen in den Erhalt der ex-ante eingezahlten Versicherungsbeiträge begründet – diesem Ziel muss sich auch die Kapitalanlage unterstellen. Unter Solvency II gilt für die Kapitalanlage das „prudent person principle“, ergo muss die Kapitalanlage Sicherheit, Rentabilität, Liquidität und Qualität (siehe § 124 I neues VAG) widerspiegeln – genau diese Attribute müssen die Leitlinien für das Asset-Management der Versicherungsunternehmen sein. FIRM-Redaktion: Widerspricht ein politisch definiertes Null-Risiko für Staatsanleihen – und damit eine Erleichterung der Staatsverschuldung auf Kosten der Sicherheit der Versicherungsnehmeransprüche – nicht dem oben erwähnten Ziel des Verbraucherschutzes? Matthias Müller-Reichart: Mit der politisch motivierten Null-Risiko-Annahme für europäische Staatanleihen soll die Versicherungswirtschaft zum Financier europäischer Staaten werden. Würde man nun ein höheres Ausfallrisiko dieser Government Bonds unterstellen, könnte man Ihrer These zustimmen. Bedenkt man jedoch, dass die EZB eine Zahlungsunfähigkeit europäischer Staaten verhindert und somit die No-Bail-Out-Klausel ad absurdum führt, so bedeutet ein erhöhtes Engagement in europäischen Staatsanleihen primär eine Verschlechterung der Durchschnittsrendite des Asset-Managements der Versicherungsgesellschaften. Dies aber tangiert in erster Linie die Rentabilitätsziele der Anteilseigner und wird nur bedingt zu einer Nicht-Erfüllung der Versicherungsnehmeransprüche führen. Insofern führt die Null-Risiko-Annahme für europäische Staatsanleihen zwar zu einem massiven Renditeproblem des nicht-versicherungstechnischen Ergebnisses, wird aber nicht eine Erhöhung der Insolvenzwahrscheinlichkeiten der Versicherungsunternehmen bedingen. Der Verbraucherschutz bleibt aus meiner Sicht gewahrt, die Rendite der Versicherungsprodukte sowie der Anteilsscheine wird dagegen unter Druck geraten. FIRM-Redaktion: Wird die Relevanz von „Intangible Assets“ – etwa dem Wert der Marke – in Solvency II ausreichend berücksichtigt? Matthias Müller-Reichart: „Intangible Assets“ bleiben in der Solvenzbilanz weitgehend unberücksichtigt – ein derivativ erworbener Firmenwert (Goodwill) darf beispielsweise überhaupt nicht angesetzt werden. Diese Sichtweise ist mit der von Solvency II verfolgten, extremen Risikoaversion zu begründen – jeder Wert, der subjektive, am Markt nicht replizierbare Dimensionen annehmen kann, soll tendenziell unterlassen werden. Insofern ist eine Solvenzbilanz nach Solvency II von hoher Risikoaversion gekennzeichnet und wird „Intangible Assets“ tendenziell eher negieren.

39 Ausgabe 04/2016 FIRM-Redaktion: Die delegierten Rechtsakte vom 17. Januar 2015 umfassen rund 800 Seiten. Auch das Versicherungsaufsichtsgesetz hat an Regelungen zugelegt. Wie bewerten Sie das Risiko einer zu hohen Komplexität und Bürokratisierung der Regulierung und Aufsicht? Matthias Müller-Reichart: Mit einer überbordenden Komplexität und Bürokratisierung versucht der Gesetzgeber jeglichem Haftungstatbestand zuvorzukommen. Insofern stellen diese Elemente Schutzmechanismen des Regulators dar – natürlich zulasten der Verständlichkeit und somit der Akzeptanz in der Praxis. Ein regulatorisches System kann nicht wie ein „key information document“ nach MiFID II auf drei Seiten abgebildet werden – der nun gefundene Umfang aber sprengt jegliche Verkraftbarkeit menschlicher Aufmerksamkeit und Aufnahmefähigkeit. Die Konsequenz dieser Komplexität ist eine notwendige Konzentration auf Schlüsselinformationen und somit das Risiko, Rand- und Nebeninformationen nicht im Sinne ökonomischer Optimierungen nutzen zu können. An dieser Stelle sei die immense Unterstützung des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) gewürdigt, der die Solvency-II-Informationen immer wieder branchen- und zielgruppengerecht zusammenfasst. FIRM-Redaktion: Risk Management muss gelebt werden – hierfür ist eine ausgeprägte Risiko- und Unternehmenskultur wichtig! Wird dies bei Solvency II adäquat berücksichtigt? Matthias Müller-Reichart: Den besonderen Nutzen von Solvency II sehe ich in der Säule 2 – die Verpflichtung zu einem qualitativ hochwertigen, von verschiedenen Governance-Funktionen getragenen, Risikomanagement. Durch die Umsetzung dieser Säule muss sich die Risiko- und Unternehmenskultur der Versicherungsunternehmen qua Regulatorik anpassen. Somit müssen nicht nur die Schlüsselfunktionen des Versicherungsunternehmens „fit and proper“ sein – die gesamte Unternehmenskultur muss ihre Fitness in Sachen Risikomanagement beweisen. Allein für diesen regulatorischen Quantensprung hat sich die Einführung von Solvency II gelohnt. FIRM-Redaktion: Wie bewerten Sie das Risiko der Furcht der Regulierer vor der eigenen Verantwortung – auch als „Regulatory Forbearance“ bezeichnet? Matthias Müller-Reichart: Wie bereits angedeutet hat diese „regulatory forbearance“ mit der Entscheidung für Solvency II wie ein „deus ex machina“ über dem Entwicklungsprozess dieser neuen Regulatorik geschwebt. Ein regulatorisches System muss haftungssicher und somit quasi perfekt sein – ein Anspruch, dem die Regulierer aufgrund neu eintretender Risiken nicht gerecht werden können. Ergo entwickelt man ein System, bei dessen Beachtung nach bestem Wissen und Gewissen kein, aber auch wirklich kein Haftungsrückschluss möglich ist. FIRM-Redaktion: Wo sehen Sie aktuell in der Praxis noch die größten Baustellen bei der Umsetzung von Solvency II? Matthias Müller-Reichart: Solvency II ist in den Versicherungsunternehmen eine einzige Baustelle – aber eine lernfähige und lernwillige Baustelle. Meines Erachtens haben die deutschen Versicherungsunternehmen mit der Erfüllung des Solvency Capital Requirements vor dem Hintergrund einer 16-jährigen Übergangsphase und der Nutzung von Volatility-Adjustments sowie Rückstellungs- und Zinstransitionals wenige Probleme. Auch die Darstellung des ORSA sowie die Etablierung der Governance-Funktionen gestalten sich in den Unternehmen problemlos. Eine wirkliche Baustelle erkenne ich in der Erfüllung der Berichtssystematik gemäß Säule 3. Hier nutzen die Unternehmen die möglichen Synergieeffekte der BaFin-, EIOPAund EZB-Berichterstattung noch zu wenig, womit die Berichtspflichten für die meisten Versicherungsunternehmen derzeit noch erdrückend wirken. Wenn neben den jährlichen Solvency Financial Condition Reports (SFCR), Regular Supervisory Reports (RSR), ORSA- Berichten und EZB-Reports die quartärlichen Quantitative Reporting Templates (QRT´s) sowie die verschiedenen Quartalsbilanzen (Handelsbilanz nach BilMoG und BilRUG, Steuerbilanz, Solvenzbilanz, IAS/IFRS-Bilanz, US-GAAP-Bilanz) erstellt werden müssen, bleibt für die Geschäftsaufbringung nur noch wenig Freiraum. Prof. Dr. Matthias Müller-Reichart ist Studiendekan der Wiesbaden Business School (Fachbereich Wirtschaft), Studiengangsleiter des Studiengangs Versicherungs- und Finanzwirtschaft und Inhaber des Lehrstuhls für Risiko-Management an der Hochschule RheinMain in Wiesbaden. Nach dem Studium der Betriebswirtschaftslehre und der katholischen Theologie war er als Vorstandsassistent und Leiter Unternehmensplanung für die deutsche Generali Versicherungsgruppe tätig. Seine parallele Promotion, Lehraufträge an der Universität München sowie der Beginn seiner Habilitation motivierten seine Hinwendung zu Forschung und Lehre, die sich 2001 im Ruf an die Hochschule RheinMain erfüllte. Matthias Müller-Reichart befasste sich in über 115 Veröffentlichungen sowie als Leiter und Referent zahlreicher Kongresse mit verschiedensten, interdisziplinären Gebieten der Risikoforschung. Neben seiner wissenschaftlichen Laufbahn berät er verschiedene Unternehmen der internationalen Erst- und Rückversicherung und ist Inhaber eines seit über 100 Jahren in den Händen seiner Familie bestehenden Einzelhandelsunternehmens.

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