Aufrufe
vor 6 Jahren

RISIKO MANAGER 03.2016

  • Text
  • Risiken
  • Verbriefung
  • Forderungen
  • Risiko
  • Risikomanagement
  • Unternehmen
  • Ausschuss
  • Musterbank
  • Banken
  • Basler
RISIKO MANAGER ist das führende Medium für alle Experten des Financial Risk Managements in Banken, Sparkassen und Versicherungen. Mit Themen aus den Bereichen Kreditrisiko, Marktrisiko, OpRisk, ERM und Regulierung vermittelt RISIKO MANAGER seinen Lesern hochkarätige Einschätzungen und umfassendes Wissen für fortschrittliches Risikomanagement.

18

18 RISIKO MANAGER 03|2016 Extremwerttheorie Schwarze Schwäne treten häufiger auf, als uns Wahrscheinlichkeiten glauben lassen [vgl. Taleb 2008]. Beispiele für positive Extremereignisse sind herausragende technische Errungenschaften, wie die Erfindung der Eisenbahn, des Telefons oder des Computers oder medizinische Entdeckungen, wie beispielsweise die des Penicillins oder der Röntgenstrahlen. Für das Risikomanagement bedeutsamer sind negative Extremereignisse wie Terroranschläge (9/11, Paris 2015), Naturkatastrophen (Elbhochwasser 2002, Wintersturm Kyrill 2007), spektakuläre Pleiten großer Unternehmen (Philip Holzmann, Schlecker, Arcandor) oder Börsencrashs (Black Monday, China August 2015 und Januar 2016). Dass sich derartige Ereignisse nicht auf Basis vergangenheitsbasierter Modelle prognostizieren lassen, liegt auf der Hand: Daten sind unvollständig und Beobachtungszeiträume kurz, menschliches Handeln, welches die Ereignisse massiv beeinflusst, lässt sich nicht realistisch abbilden. Wie können extreme Daten, beispielsweise mögliche Auswirkungen eines Börsencrashs oder der plötzliche Ausfall eines in der Vergangenheit immer zuverlässigen Lieferanten, bestimmt werden? Viele Fragen aus dem echten Leben erfordern Schätzungen. Wenn es keine Daten oder nur sehr wenige Beobachtungen gibt, werden wichtige Schätzungen öfter nach „Gefühl“ als aufgrund von Tatsachen gemacht. Extreme sind per definitionem ungewöhnliche und/oder seltene Ereignisse. Bei klassischen Datenanalysen werden diese als Ausreißer verharmlost oder gar ignoriert. Damit werden die reellen Daten manipuliert, um gut zu einem Modell zu passen. Extreme Daten dürfen ignoriert werden, wenn man nur Schätzungen alltäglicher Ereignisse benötigt. Betrachtet man Situationen, in denen das Meiste zu gewinnen oder zu verlieren ist, sind die Extremwerte keine zu ignorierende Ausnahme, sondern die zu berücksichtigende „Regel“. Die Extremwerttheorie liefert einen wissenschaftlichen Ansatz zur Vorhersage der Größe von seltenen Ereignissen. Sie ist eine mathematische Disziplin, die sich mit Ausreißern, das heißt maximalen und minimalen Werten von Stichproben, beschäftigt. Diese Ausreißer unterliegen einem stochastischen Einfluss. Ein zentrales Resultat der Extremwerttheorie ist die Tatsache, dass für das Maximum (beziehungsweise das Minimum) einer Stichprobe – und hier ist es nahezu egal, welche Verteilung zugrunde liegt – im Wesentlichen nur drei Grenzverteilungen möglich sind. Diese sind die Gumbel-, Frechet- und Weibull-Verteilung. Die Verteilungen der Extremwerte bestimmter Risiken kann man bestenfalls modellieren, aber zumindest kann man mögliche Extremalwerte im unternehmerischen Planungsprozess berücksichtigen. Eine Einschätzung von Risiken mithilfe von Extremwertbetrachtungen ist für eine Vielzahl an Risiken möglich, insbesondere » Markt- und Kreditrisiken, » Operationelle Risiken (unter anderem zählen hierzu Supply-Chain-Risiken), » Versicherungs- und Rückversicherungsrisiken. Von all diesen Risiken ist bekannt, dass sie – sofern überhaupt ausreichende Zeitreihen vorliegen – nicht unabhängig und identisch verteilt sind. Sie besitzen die oben genannten „fat tails“, ihre Volatilitäten verändern sich im Laufe der Zeit und über weite Bereiche sind die Daten nahezu unkorreliert, aber nicht unabhängig. Das heißt die Methoden der klassischen Statistik sind definitiv nicht anwendbar. Das Wunder von Belo Horizonte konnte nicht geschehen. Oder doch? Abb. 02 In dem Q-Q-Plot sind die Quantile der beobachteten Verteilung der Tordifferenz aller Länderspiele zwischen Deutschland und Brasilien (positive Werte bedeuten einen Sieg für Deutschland) den Quantilen der Normalverteilung gegenüber gestellt. Bis auf den Sieg mit sechs Toren Differenz im WM-Halbfinale 2014 sieht man, dass die empirischen Werte nahezu normal verteilt sind. 6 4 2 0 -2,5 -1,5 -0,5 0,5 1,5 2,5 -2 Q-Wert (normal) -4 -6 Q-Wert (beobachtet) Das 7:1 im WM-Halbfinale 2014 in Belo Horizonte hatte niemand auf dem Zettel, ein derart hoher Sieg Deutschlands war bei fast allen Buchmachern nicht tippbar [vgl. Süddeutsche Zeitung 2014]. Extremereignisse können auch glückliche und positive Überraschungen hervorbringen. Vor dem Weltmeisterschaftsspiel war man zu 65 Prozent davon ausgegangen, dass Brasilien gewinnt. Insgesamt hat es 22 Länderspiele der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Brasilien geben [siehe www.fussballdaten. de/vereine/deutschland/brasilien/]. Schaut man sich die historischen Ergebnisse bis zum WM-Halbfinalspiel 2014 an, so lassen sich die Ergebnisse näherungsweise durch eine Normalverteilung darstellen (siehe Abb. 02). Bei den 21 Begegnungen ergibt sich eine Mittelwert von -0,71 und eine Standardabweichung von 1,42 Toren. Würde man daraus eine Wahr-

Marktrisiko 19 scheinlichkeit ableiten, dass Deutschland mit sechs Toren Differenz gewinnt, so läge diese bei 0,01 Prozent. Dass das 22. Spiel mit einem solchen „historischen“ Ergebnis endete, lässt sich durch die Normalverteilung auf Basis der historischen Daten nicht erklären (siehe Ausreißer im Q-Q-Plot in Abb. 02). Wendet man jedoch die Ergebnisse der Extremwerttheorie an und simuliert die Verteilung des Extremwerts der zugrunde liegenden Verteilung, so ergibt sich, dass dieser mit 95%-iger Wahrscheinlichkeit nicht kleiner als 6,22 Tore ist. Das Ergebnis wurde mithilfe der Vose-Software ModelRisk simuliert. Natürlich ergibt sich auch ein für Fussball-Fans nicht so erfreulicher extremaler Verlust. Dieser liegt mit 95%-iger Wahrscheinlichkeit bei einer Tordifferenz von 6,41 Toren für Brasilien. Das Beispiel zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses basierend auf historischen Beobachtungen sehr gering ist, dass es aber durchaus möglich ist, dass sich dieses Extremereignis realisiert. Ähnliche Fragestellungen ergeben sich in zahlreichen Situationen: Wetterphänomene wie der wärmste oder kälteste Tag, die stärkste Windböe, die größte Niederschlagsmenge, Logistikprobleme wie das größte Verkehrsaufkommen, der längste Stau, finanzielle Risiken wie der größte Verlust oder der größte Betrug etc. Bei all den Beispielen muss man nicht notwendigerweise wissen, wann das Ereignis eintrifft, aber man kann bestimmen, wie groß die Auswirkungen maximal sein können. Laut Süddeutscher Zeitung hatte ein Engländer auf das richtige Ergebnis des Spiels von Belo Horizonte gewettet und bei einem Wetteinsatz von fünf Pfund einen Gewinn von 2.500 Pfund ausbezahlt bekommen – ein Extremereignis. Fazit: Das dicke Ende kommt Erstaunlich viele Daten aus dem echten Leben genügen der Normalverteilung oder verwandter Verteilungen, die sehr gut verstanden sind und leicht berechnet werden können. Wenn man jedoch an den Enden der Verteilungen einen Blick auf die extremen Werte wirft, fällt auf, dass diese Enden dicker sind als von den klassischen Verteilungen vorhergesagt („fat tail“). Im Risikomanagement muss man daher nicht nur die „normalen“ Risiken betrachten – hier liefern klassische Risikomaße wie der Value-at-Risk gute Ergebnisse – sondern man muss sich auf das Unbekannte und Seltene vorbereiten. Hierzu wird Dennis Weatherstone, der CEO von J.P. Morgan, der den Value-at-Risk eingeführt hat, folgendermaßen zitiert: VaR gets me to 95% confidence. I pay my Risk Managers good salaries to look after the remaining 5% [vgl. RiskMetrics Group 1999]. Das Problem der Modellierung seltener Phänomene ist, das diese fast immer außerhalb des Bereichs der vorhandenen Beobachtungen liegen. Das Denken in Risikoszenarien und die Bewertung von Risiken mithilfe der Extremwerttheorie liefern hier Ergänzungen zum klassischen Ansatz der Expertenschätzung und des „Ratens“. Die Analyse von Geschäftsprozessen in Risikoszenarien hilft dem Unternehmen, kleine, alltägliche Fehler aufzuspüren und vereinfachenden Diagnosen zu widerstehen, die sich irgendwann durch eine Verkettung zu schwerwiegenden Problemen entwickeln könnten. Dadurch wird die Sensibilität für betriebliche Abläufe geschärft, Entscheidungsprozesse werden flexibilisiert und Expertenwissen wird in Entscheidungsprozesse und Notfallpläne integriert. Für Unternehmen ist das Denken in Risikoszenarien ein Umstellungsprozess, bedeutet es doch, dass man auf die Annehmlichkeiten verzichten muss, sich an Vereinfachungen, strategischen Plänen und organisatorischen Hierarchien zu orientieren. Lernen kann man hier von Organisationen, die regelmäßig für Spitzenleistungen sorgen, weil sie in Umgebungen arbeiten, in denen das Potenzial für Fehler und Katastrophen exorbitant hoch ist, wie beispielsweise medizinische Notfallteams oder die Flugsicherung. Diese Organisationen müssen unbedingt zuverlässig funktionieren. Sie gewährleisten dies, indem sie ihre Vorstellungen von den Ereignissen immer wieder auf den neuesten Stand bringen und sich nicht in „alten Denkkategorien“ oder „unausgegorenen Deutungen der äußeren Bedingungen“ verfangen [vgl. Weick/Sudcliffe 2010]. Extreme Risiken lassen sich mithilfe der Extremwerttheorie bewerten. Nicht nur in der Finanzwelt findet diese Theorie Anwendung. Auch beispielsweise Biotech-Analysen, die Untersuchung des Datentransfers im Internet und Supply-Chain-Analysen bieten sich für Extremwerttheorie-Anwendungen an, da hier die Datenverteilungen ebenfalls „fat tails“ haben. Das Denken in Risikoszenarien unter Einbeziehung der Extremwerttheorie beschränkt sich damit keinesfalls auf Unternehmen im Finanzbereich oder spezielle Organisationen, wie sie oben genannt wurden. Auch Unternehmen anderer Branchen sollten die Einsatzmöglichkeit überprüfen, denn auch ihre Risikomanager müssen sich Gedanken um Ereignisse machen, die mit geringer Wahrscheinlichkeit eintreten, aber zu katastrophalen Verlusten führen können. Und häufig sind bei mittelständischen Firmen die Kapitalposter zum Abdecken von Verlusten aus Extremrisiken dünn. Quellenverzeichnis sowie weiterführende Literaturhinweise de Haan, Laurens/Ferreira, Ana [2006]: Extreme Value Theory, Springer Verlag, Berlin u.a. 2006. European Banking Authority [2016]: Draft Guidelines on stress testing and supervisory stress testing, EBA/CP/2016/28. Gulati, Ranjay/Casto, Charles/Krontiris, Charlotte [2014]: Das andere Fukushima, in Harvard Business Manager, Oktober 2014, S. 53-59. Klasen, Oliver [2014]: Statistisch unglaublich, in: Süddeutsche Zeitung, 9. Juli 2014. RiskMetrics Group [1999]: Risk Management: A Practical Guide, 1999. Taleb, Nassim Nicholas [2008]: Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, Hanser Verlag, München 2008. Thun, Christian/Prioux, Sandrine/Canamero, Maria C. [2013]: Stress Testing Best Practices: A Seven Step Model, in Moody’s Analytics Risk Perspectives: Stress Testing European Edition Vol. 1, September 2013. Weick, Karl. E./Sudcliffe, Kathleen M. [2010]: Das Unerwartete Managen: Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen, Schäffer-Poeschel Verlag, Stuttgart 2010. Autor Prof. Dr. Thomas Schauerte, Hochschule Coburg.

RISIKO MANAGER

 

Copyright Risiko Manager © 2004-2017. All Rights Reserved.