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RISIKO MANAGER 03.2016

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16 RISIKO MANAGER 03|2016 Risk als Standardrisikomaß eingeführt. Ursprünglich wurde das Risikomaß von der Investmentbank JP Morgan entwickelt und fand eine rapide Verbreitung in der Finanzindustrie. Die grundlegende Idee der Erfinder des Value-at-Risk war, Portfoliobesitzer vor adversen Marktbedingungen und großen Verlusten zu schützen. Das Ende der letzten Dekade war von einer signifikanten Instabilität der weltweiten Märkte mit extremen Wertverlusten gezeichnet, die deutlich aufzeigten, dass der Value-at-Risk als Standardrisikomaß die Anforderungen an ein wertschonendes Risikomanagement nicht erfüllen konnte. Dies hat zu heftiger Kritik an den existierenden Risikomanagement-Systemen geführt und die Suche nach besseren Methodologien motiviert, die mit seltenen und extremen Ereignissen mit existenzbedrohenden Konsequenzen zurechtkommen. Die Kritik beruht im Wesentlichen auf zwei grundsätzlichen Eigenschaften des Value-at-Risk. Erstens beschreibt er eine obere Verlustgrenze, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nicht überschritten wird. Liegt der Value-at-Risk bei einem Konfidenzniveau von 99 Prozent beispielsweise bei 50 Millionen Euro, heißt das, dass mögliche Verluste mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit in einem bestimmten Zeitraum diesen Betrag nicht überschreiten werden. Die Zahl sagt aber nichts darüber, wie hoch der Verlust bei außerordentlichen unvorhersehbaren Ereignissen tatsächlich werden kann. Zweitens setzt die Berechnung des Value-at-Risk beim Varianz-Kovarianz-Ansatz eine Normalverteilung der Daten voraus. Diese Annahme ist aber in der Regel nicht zutreffend, da man weiß, dass die Verteilungen von Zeitreihen von Risikofaktoren für wesentliche Risiken wie Markt-, Kredit-, operationelle und Rückversicherungsrisiken in der Regel einen sogenannten „fat tail“ aufweisen. Das bedeutet, dass für die Steuerung von Risiken die Ausreißer einer Zeitreihe von Interesse sind. Auch gängige Planungsmodelle in der Unternehmensführung stellen nicht selten auf die vereinfachten statistischen Konzepte der Normalverteilung ab (gemeint sind hier beispielsweise Trend-, Regressionsoder Varianzanalysen), genauso wie sie im traditionellen Risikomanagement Anwendung finden. So werden auf Basis historischer Beobachtungen Prognosemodelle entwickelt, die implizit den zentralen Grenzwertsatz anwenden. Dieser beschreibt das Verhalten einer Zeitreihe durch Mittelwerte und Abweichungen von Summen unabhängiger Beobachtungen. In betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen wird immer wieder mit der Normalverteilung und dem zentralen Grenzwertsatz gerechnet. Häufig ist dies gerechtfertigt, denn normalverteilte Merkmalsausprägungen sind häufig: Technische Maße im Qualitätsmanagement, Nachfragedaten im Marketing, Kosten- und Leistungskennzahlen sind oft normalverteilt. Die Normalverteilung hilft uns also, eine Vielzahl alltäglicher Probleme zu beschreiben und zu lösen. Im Risikomanagement ist man jedoch am Extremverhalten interessiert, beispielsweise wenn die notwendige Sicherheitsreserve einer Bank oder eines Versicherungsunternehmens festgelegt werden soll oder ein ausreichender Sicherheitspuffer in der Supply-Chain eines Industrieunternehmens bestimmt werden soll. Hier hilft es wenig, zu wissen, wie hoch die durchschnittlichen möglichen Verluste eines Kreditportfolios, die durchschnittlichen Forderungen an eine Versicherung oder durchschnittliche Lieferverzögerungen von Lieferanten sind. Von Interesse für das Risikomanagement ist, wie groß ein solches Ereignis maximal sein kann. Extremereignisse als Grundlage des Risikomanagements Extremereignisse zeichnen sich dadurch aus, dass sie häufig auf einer Verkettung von Ereignissen basieren, die einzeln oft gut handhabbar wären. Die verheerende Ereigniskette des Atomunfalls von Fukushima zeigt dies deutlich. Die Havarie des Atomkraftwerks entstand durch das Zusammenwirken des starken Erdbebens im Pazifik, der dadurch ausgelösten Tsunami-Welle, die bei der Überschwemmung des Kraftwerks einen Stromausfall bewirkte, sodass es letztlich zu einer Kernschmelze in mehreren Reaktoren kam. Weniger bekannt ist, dass in nur rund zehn Kilometer Entfernung von dem havarierten Kernkraftwerk ein weiteres Kernkraftwerk von der Naturkatastrophe schwer getroffen wurde. Doch eine „echte“ Katastrophe konnte durch ein proaktives Management der extremen Risikosituation verhindert werden [vgl. Gulati/Casto/Krontiris 2014]. Lieferverzögerungen und Produktionsausfälle bei deutschen Unternehmen als weitere Folge der Katastrophe zeigen die Anfälligkeit der Versorgungsketten in der globalisierten Wirtschaft. Risiken aus Extremereignissen wirken sich im Supply-Chain-Management besonders stark aus, was eine direkte Folge der Just-in-Time- beziehungsweise Just-in-Sequence-Produktion ist. In den letzten Jahren wurde durch politische Unruhen und Umweltkatastrophen die Stabilität der Supply-Chains von Unternehmen immer wieder auf die Probe gestellt. Das Abstellen auf Einzelereignisse erzeugt dabei eine Diskrepanz zwischen der vorherrschenden komplexen Bedrohungslage und der Risikowahrnehmung im Unternehmen und führt zur Illusion einer einfachen Handhabbarkeit von Risiken. Um den Auswirkungen solcher Extremereignisse nicht blind gegenüber zu stehen, bedarf es – insbesondere in international tätigen Unternehmen – einer Berücksichtigung von Risiken aus Extremereignissen in das Risikomanagement. Dazu wird ein Instrumentarium für ein ganzheitliches Risikomanagement im Unternehmen benötigt, das über die zu stark vereinfachende Normalverteilung und den damit verbunden Value-at-Risk-Ansatz hinausgeht. Ein möglicher Ansatz ist ein szenariobasiertes Risikomanagement, bei dem im Risikomanagementprozess mögliche – auch unwahrscheinliche – Szenarien entwickelt und gedanklich durchgespielt werden. Szenariobasiertes Risikomanagement Die Finanzbranche hat auf das Versagen der Risikomanagementsysteme in der Finanzkrise mit einer Vielzahl an Vorschlägen für neue Risikomess- und Risikomanagement-Methoden reagiert. Eine der ersten Anforderungen sowohl von aufsichtlicher als auch brancheninterner Seite

Marktrisiko 17 war die Etablierung sogenannter Stresstests [vgl. European Banking Authority 2016]. Bei diesem Risikomanagement-Instrument gibt es wiederum eine Reihe unterschiedlicher Ansätze, von denen sich mittlerweile makroökonomische Stresstests als vielversprechendes Instrument zur Überprüfung der Widerstandsfähigkeit sowohl einzelner Banken als auch des gesamten Bankensektors gegen adverse Marktbedingungen etabliert haben. Demzufolge werden diese Stresstest regelmäßig durchgeführt. Für den aktuellen im Jahr 2016 von 53 europäischen Banken durchzuführenden Stresstest hat die Europäische Bankenaufsichtsbehörde EBA im November 2015 die Methodik und die makroökonomischen Szenarien veröffentlicht [vgl. www.eba.europa. eu]. Die europaweit gleichermaßen anzuwendende Methodik, einheitliche Szenarien und eine abgestimmte Offenlegung sollen sicherstellen, dass die Ergebnisse kohärent und vergleichbar sind. Das grundlegende Vorgehen bei einem makroökonomischen Stresstest ist einfach [vgl. Vgl. Thun/Prioux/Canamero 2013]: Ausgehend von einem geschlossenen makroökonomischen Szenario, das sowohl eine qualitative Beschreibung einer möglichen Entwicklung wesentlicher Märkte als auch deren Quantifizierung durch Prognosemodelle für realwirtschaftliche und finanzielle Kennzahlen beinhaltet, werden über einen vorgegebenen Zeitraum von einigen Jahren Auswirkungen auf die Qualität der Aktiva und die damit verbundenen möglichen Wertberichtungsbedarfe sowie weitere wesentliche Komponenten der Gewinn- und Verlustrechnung und des Eigenkapitals abgeschätzt und daraus Risikokennzahlen – für Banken als wesentlichste Kennzahl die Core-Equity-Tier- 1-Quote – simuliert. Die Anwendung szenariobasierter Stresstests kommt einem Paradigmenwechsel in der Risikosteuerung von Banken gleich, fragt man doch nicht mehr nach der Wahrscheinlichkeit bestimmter Ereignisse. Ganz im Gegenteil: Durch die detailgetreue Beschreibung des makroökonomischen Szenarios wird das tatsächliche Eintreten des so spezifizierten Ereignisses immer unwahrscheinlicher. Es wird aber immer realistischer und bietet daher eine konkrete Basis für das gedankliche Durchspielen von Handlungsstrategien und die Formulierung von Gegenmaßnahmen. Auf der Basis von Risikoszenarien lassen sich Extremsituationen simulieren und eine Handlungsroutine etablieren, um im Ernstfall operative Risiken zu vermeiden. Risikoszenarien lassen sich in allen Unternehmen in jedweder Industrie anwenden. Durch das Formulieren solcher Szenarien können Auswirkungen unerwarteter und extremer Ereignisse diskutiert und bewertet werden – selbst wenn sie unwahrscheinlich sind. Gerade solche Ereignisse erweisen sich häufig als Prüfungen der Flexibilität und Widerstandskraft eines Unternehmens. Denn die meisten Probleme tauchen nicht unversehens in voller Größe aus dem Nichts auf. Vielmehr häufen sich über einen längeren Zeitraum die Hinweise auf kleine, unerwartete Ereignisse, die allmählich zu ständigen Begleitern und demzufolge im Tagesgeschäft ignoriert werden. Bei Fehleranalysen werden einfache und vereinfachende Diagnosen akzeptiert. Bei einem geringen äußeren Anlass kann es dann plötzlich passieren, dass eine Verkettung kleiner Fehler zu einem existenzbedrohenden Szenario wird. Abb. 01 sofern bestehende Maßnahmen als nicht ausreichend angesehen werden Das Denken in Risikoszenarien sensibilisiert für Fehlerketten in unternehmerischen Prozessen und hilft daher, Reaktionsmöglichkeiten vorzubereiten und so die Überlebenswahrscheinlichkeit in Extremsituationen zu erhöhen. Durch den konsequenten Einbezug von Experten aus allen Risikofeldern in den Risikomanagementprozess lässt sich die Illusion der Kontrolle und Kontrollierbarkeit aufbrechen. So lassen sich Flexibilisierungen beispielsweise der Supply Chain in den Managementprozess aufgrund komplexer Störungen durch Extremereignisse oder Business-Continuity-Pläne auf Basis von Risikoszenarien entwickeln (siehe Abb. 01). Risikoszenarien können beispielsweise makroökonomische, politische und finanzielle Krisenereignisse reflektieren. Einen Ansatz zur Quantifizierung von Risikoszenarien, die existenzbedrohende unerwartete Ereignisse inkludieren, liefert die Extremwerttheorie [Einen Überblick zur Extremwerttheorie findet man beispielsweise in de Haan/Ferreira 2006]. Diese beschreibt im Gegensatz zum zentralen Grenzwertsatz das extreme Verhalten einer Zeitreihe, dass heißt die Ausreißer, die im Risikomanagement auch „schwarze Schwäne“ genannt werden. Im Krisenfall stellt ein standardisiertes Vorgehen analog zu Einsatzplänen im Katastrophenschutz eine konzertierte Aktion auf Konzernebene sicher. Risikomanagement als zentrale Anlaufstelle Einschätzung der Lage und Entscheidung über Sofortmaßnahmen auf Basis von Business-Continuity-Plänen Alarmierung (Frühwarnsystem) sofern bestehende Maßnahmen als nicht ausreichend angesehen werden Aufrechterhaltung der Geschäftstätigkeit Rückkehr zur Normalität Klärung analytischer Fragen durch Risiko-Experten Weitere Untersuchungen Einbeziehung weiterer Experten Kommunikation (intern und extern)

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